Nein, es kommt nicht alle Tage vor, dass man einen Lebenslauf liest und nach wenigen Zeilen mit offenem Mund da sitzt, staunend. Bei Viktoria Schäfer, 30, ist dies der Fall. Doktor Viktoria Schäfer, Vorstandsvorsitzende des Forschungsinstituts ADG Scientific – Center für Research and Cooperation, kurz: ARC. „Na ja“, wendet Viktoria Schäfer ein und lächelt: „Ich hab halt ein wenig Gas gegeben.“ Das ist, gelinde gesagt, untertrieben. Als die gebürtige Montabaurerin in ihrem Heimatort das Landesmusikgymnasium besuchte, ahnten Eltern und Lehrer schon bald, dass hier ein Talent heranwuchs. Mit außergewöhnlichen Interessen. Welche 14-Jährige träumt schon von einem BWL-Studium und einer internationalen Karriere? „Für mich war das Ausland damals schon wie ein Lockruf“, erzählt Schäfer. Ein weiterer Lockruf kam aus dem nahe gelegenen Vallendar. In dem idyllischen Städtchen am Rhein sitzt die renommierte WHU – Otto Beisheim School of Management. Weil Schäfer Einblicke in deren Angebot bekommen wollte, bat sie ihren Schulleiter, sie einen Tag pro Woche vom Schulunterricht freizustellen. „Ich hatte nach einem Besuch vor Ort gleich Feuer gefangen und hätte am liebsten sofort die Schule beendet, um dort anzufangen“, erinnert sie sich. Der Schulleiter war mit der Idee einverstanden, der damalige Rektor der WHU auch – und so absolvierte die Jungstudentin zumindest ein Semester in Vallendar. Ganz schön forsch … Überhaupt, forsch. Das Abitur war 2008 gerade gemacht, nachdem sie eine Klasse übersprungen hatte, da ging es auch schon nach Vallendar, als reguläre Studentin für Internationales Management mit Schwerpunkt Finance and Economics. „Ich hatte mich nirgendwo sonst beworben, weil ich unbedingt dorthin wollte.“ Ziel erreicht.
„Wo bleiben Moral und Werte in der Ökonomie?“
Nicht nur, dass an der WHU ausschließlich in Englisch unterrichtet wird – auch der starke Auslandsbezug war einer der Gründe, der die Hochschule für sie so attraktiv machte: ein Semester an der McMaster University in Kanada, weitere Aufenthalte in Chile, Mexiko und an der Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi folgten. Dass sie schließlich promovieren würde, war ihr schon früh „ein Herzensanliegen“. Und auch in welche Richtung ihre Arbeit thematisch gehen würde, schälte sich bald heraus – und prägt sie bis heute als Leiterin des ARC: „Ich habe mich recht schnell gefragt, wo eigentlich Moral und Werte in der Ökonomie bleiben.“
Damals wütete die Finanzmarktkrise. Umso unverständlicher war der Studentin, dass das ökonomistische Ideal von Wachstum und Profitmaximierung in Lehre und Forschung nicht hinterfragt wurde. „Da kristallisierte sich für mich allmählich ein Thema heraus “. Dass ihr dieses Thema so wichtig war und ist, hat für Schäfer auch ganz klar mit ihrem Elternhaus zu tun. „Ich wurde mit einem festen Wertesystem groß, dazu gehörten Geradlinigkeit, Herz und Verstand. Und auch meine musische Ausbildung am Landesmusikgymnasium hat einen wichtigen Beitrag geleistet“, ist sie überzeugt. Denn Musik, fügt sie hinzu – dazu gehöre die Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören und den anderen zu verstehen. Alles Qualitäten, die ihr in der Welt der Wirtschaft zu oft abgingen. Mehr noch als das: „Ich habe hier einen inneren Konflikt zwischen Lehre und meinem Weltbild verspürt.“ Und so wurde aus der einstigen forschen Schülerin und Studentin mit den klaren Werten die Forscherin auf der Suche nach den Werten.
Ökonomie und Ethik – das wurde für Viktoria Schäfer zum untrennbaren Begriffspaar, dem sie bis heute ihre ganze Aufmerksamkeit und Energie schenkt. Mit ihrer Doktorarbeit an der ADG Business School an der Steinbeis-Hochschule legte sie für ihre wissenschaftliche Agenda den Grundstein. Der Titel „The Cooperative Idea as an Institutionalization of Adam Smith’s Moral Philosophy“ – so kompliziert er auch klingt – hat für sie schon fast programmatischen Charakter. Denn es ist die genossenschaftlich-kooperative Idee, die ihrer Meinung nach das Modell einer ethikbasierten Ökonomie vorgibt. „Sie stellt dem Prinzip des wirtschaftlichen Erfolgs das Prinzip der Solidarität, Nächstenliebe und Partnerschaftlichkeit an die Seite.“
Profit, so Schäfer, sei hier nicht mehr das alleinige oberste Gebot. Aber was hat der alte Adam Smith dabei verloren? Schäfer schmunzelt: „Er ist gründlich missverstanden und allzu oft nicht richtig zitiert worden“, sagt sie und erklärt warum: Mit seinem Buch „Wohlstand der Nationen“ von 1776 gilt der Schotte als Begründer der modernen Wirtschaftstheorie und Schöpfer des sogenannten Homo oeconomicus, des allein rational und aus Eigennutz handelnden Menschen. Aber da war auch der Moralphilosoph und Autor des nicht weniger bedeutsamen, aber vielfach in Vergessenheit geratenen Werks „Theorie der ethischen Gefühle“. Schäfer: „Für Smith war klar, dass Sympathie die Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft und somit auch der Ökonomie ist.“
Sie glaubt fest an die Kraft des Homo cooperativus
Adam Smith, Homo oeconomicus, ethikbasierte Ökonomie – wenn man Viktoria Schäfer dazu reden lässt, kommt sie schnell in den „Flow“. Dafür brennt sie mit großer Leidenschaft. Hier sitzen die Wurzeln ihrer persönlichen Überzeugung. „Wir brauchen einen neuen Idealismus, der keine Scheu hat, vermeintlich Selbstverständliches zu hinterfragen. Die Zeiten sind vorbei, in denen wir wie die Lemminge alle auf eine Klippe zuliefen. Es geht um eine neue Haltung. Um Charakter.“ Viktoria Schäfer glaubt an den Gegenentwurf zum Homo oeconomicus: den Homo cooperativus. Der solidarische Mensch, der die Gesellschaft mit der Kraft der Gemeinschaft voranbringt. „Womit wir in der Welt der Genossenschaften sind“, erklärt sie und setzt hinzu: „Irgendwie ist es aus heutiger Sicht klar, dass ich hier gelandet bin.“