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    Engpassfaktor Personal – warum es jetzt auf den „Faktor Mensch“ ankommt

    von Monika Schaaf

    Der demografische Wandel wird schon lange diskutiert. Seit den 1970er Jahren bereits übersteigt die Anzahl der Sterbefälle in Deutschland die der Geburten. Jedoch sind erst in den letzten Jahren die Auswirkungen der alternden Gesellschaft den meisten Menschen wirklich bewusst geworden. Diese immer deutlicher spürbaren Folgen für Unternehmen sind drastisch und könnten auch für Genossenschaftsbanken zu einer existenziellen Herausforderung werden. Bildung, Qualifikation und Kompetenz werden ein wichtiger Teil der Lösung sein – und müssen.

    Die Ära der Personalreserven ist vorbei. Die Realität hat einen neuen Namen: Engpassfaktor Personal. Das Thema, das über viele Jahre hinweg mehr oder weniger unscharf behandelt wurde, gewinnt zunehmend an Klarheit. Das entstehende Bild bereitet vielen Personalmanagern jedoch zunehmend Sorgen. Die Gesamtzahl der Arbeitskräfte in Deutschland sinkt deutlich. Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) könnten im Jahr 2030 rund fünf Millionen Fach- und Arbeitskräfte fehlen. Dies ist auf die unterschiedlich starken Geburtsjahrgänge zurückzuführen.

    Ein Vergleich verdeutlicht die Situation: Im Jahr 1964 kamen 1,4 Millionen Menschen in Deutschland zur Welt. Ein Großteil von ihnen wird im Jahr 2029 altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Im selben Jahr werden die Geburtsjahrgänge von etwa 2009 in das Arbeitsleben eintreten. Dies betrifft etwa 736.000 Menschen, fast die Hälfte weniger als zuvor. Die Prognosen für die Volks- und Raiffeisenbanken sehen nicht besser aus. Laut einer Statistik des BVR von Ende 2022 werden in den nächsten zehn Jahren 28 Prozent der Mitarbeiter in den Volks- und Raiffeisenbanken in den Ruhestand gehen. Das entspricht 38.000 Beschäftigten von insgesamt 135.500. Zum Vergleich: Eine Fluktuation dieser Größenordnung fand in den letzten 26 Jahren statt – allerdings über alle Anlässe von Personalabgängen wie Arbeitnehmerkündigungen, Arbeitgeberkündigungen, Ablauf von Befristungen und weiteren.

    Unzufrieden – die Wechselbereitschaft nimmt zu

    Jedoch stehen Unternehmen nicht nur vor der Herausforderung der Verrentung. Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft machte das demografisch bedingte Ausscheiden von Arbeitskräften in den Jahren 2010 bis 2020 lediglich rund 10 Prozent aller Personalabgänge aus. In den letzten Jahren hatte die zunehmende Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer einen viel stärkeren Einfluss. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag von New Work SE aus dem Jahr 2022 können sich knapp vier von zehn Beschäftigten (37 Prozent) in Deutschland vorstellen, ihren Arbeitgeber zu wechseln. Bei den 18- bis 29-Jährigen sind es 48 Prozent und bei den 30- bis 39-Jährigen 40 Prozent. Insgesamt ist dies ein Anstieg um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr und der zweithöchste Wert, der jemals in der Langzeitstudie gemessen wurde. Als wichtigste Gründe werden ein zu niedriges Gehalt, ein zu hoher Stresslevel, Unzufriedenheit mit der strategischen Ausrichtung des Unternehmens sowie Unzufriedenheit mit der direkten Führungskraft genannt. Laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Gallup sind sogar fast 40 Prozent der Beschäftigten entweder gar nicht oder nur mittelmäßig zufrieden mit ihrem direkten Vorgesetzten.


    Unbesetzt – die Zahl vakanter Stellen in Fachfunktionen steigt

    1,98 Millionen offene Stellen im vierten Quartal 2022 meldete das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – ein Personalbedarf, den es so noch nicht gegeben hat. Einen verschärften Personalmangel verspürt mittlerweile auch die Finanz- und Versicherungsbranche. Laut einem Bericht des Handelsblatts, der sich auf eine Auswertung der Personalmarktforschung bezieht, waren im ersten Halbjahr 2022 bei deutschen Banken 65.000 Stellen ausgeschrieben. Das entspricht einem Anstieg von 81 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Der größte Teil dieser offenen Stellen entfällt auf das Finanz- und Rechnungswesen sowie den Bereich Controlling und Versicherung, aber auch im Vertrieb und Verkauf (10.974), in der Unternehmensführung/Management (7033) und im Bereich IT und Telekommunikation (5732) fehlt es an zahlreichen Mitarbeitenden. Zusätzlich sind über 5000 freie Stellen in den Bereichen Verwaltung, Organisation und Projektmanagement ausgeschrieben.

    Laut einer Recherche der ADG im Juli 2022 veröffentlichten 18 der größten Volksbanken und Raiffeisenbanken zu diesem Zeitpunkt insgesamt 450 externe Stellenausschreibungen. Was bei dieser Zahl zu beachten ist: Hinter einer ausgeschriebenen Funktion stehen oft mehrere freie Stellen, die besetzt werden müssen. Daher dürfte die tatsächliche Anzahl der zu besetzenden Stellen weitaus höher sein.


    Unattraktiv – die Bankenbranche kommt nicht mehr an

    Eine Ausbildung bei einer Bank stand lange Zeit ganz oben auf der Wunschliste vieler Schulabsolventen. Sicherheit und Ansehen waren Attribute, die mit einem Job in der Bankbranche verbunden wurden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Banken können nicht mehr mit Trendberufen punkten. Die Gründe dafür sind vielfältig: Skandale, Vertrauensverlust, eine zu starke Ausrichtung auf Provisionen und ein mangelnder Sinn in der Tätigkeit. Kurz gesagt, der Reputationsverlust ist enorm.

    Laut einer Analyse von Statista aus dem Jahr 2022 rangiert der Bankmitarbeiter in der Ansehensskala von 31 Berufen auf dem 27. Platz, wobei der Versicherungsvertreter sogar den letzten Platz belegt. Unter den 100 beliebtesten Arbeitgebern des Trendence-Rankings im Jahr 2022 schaffte es die bestplatzierte Bank gerade einmal auf Rang 60, während die Unternehmen der Genossenschaftlichen FinanzGruppe im Ranking nicht einmal vertreten war. Volks- und Raiffeisenbanken werden als Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt nicht ausreichend wahrgenommen, bestenfalls im regionalen Kontext. Einige Häuser versuchen daher gerade mit Kopfprämien Mitarbeitende zu gewinnen: So werden derzeit bis zu 4.000 Euro im Rahmen einer „Mitarbeiter wirbt Mitarbeiter-Aktion“ für ausgelernte Fachkräfte ausgelobt, 1.500 Euro pro gewonnenem Auszubildenden.

    Nach einer Auswertung des Instituts der Deutschen Wirtschaft von 2023, welche Berufe bis 2026 den größten Rückgang verzeichnen werden, stehen die "Bankkaufleute" prozentual an dritter Stelle in den "Flop 5", hinter IT-Anwendungsberatern und Metallbearbeitungshelfern. In absoluten Zahlen nehmen sie sogar den Spitzenplatz ein: Laut IW werden der Branche bis 2026 insgesamt 74.000 ausgebildete Bankkaufleute verloren gehen. Es wird sich zeigen, ob Recruiting-Maßnahmen wie die genannten Kopfprämien den Trend brechen können.

    Unabdingbar – die Notwendigkeit für lebenslanges Lernen nimmt zu

    Die Arbeitskräftesituation für Unternehmen wird durch eine weitere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verschärft: die Digitalisierung. Insbesondere durch die Corona-Pandemie hat sich dieser Prozess in Deutschland nochmals beschleunigt. Laut einer Studie des McKinsey Global Institute aus dem Jahr 2021 stehen etwa 10,5 Millionen Arbeitnehmer vor massiven Veränderungen. Davon werden 6,5 Millionen neue Fähigkeiten und Qualifikationen erwerben müssen, während vier Millionen Beschäftigte sogar vor einem Berufswechsel stehen, da ihre Tätigkeiten nicht mehr in gleichem Umfang benötigt werden.

    Auch das World Economic Forum von 2020 kommt zu dem Schluss, dass bis 2025 rund 40 Prozent der Kernkompetenzen von Beschäftigten eine Veränderung erfahren werden und 50 Prozent der Beschäftigten eine Weiterbildung benötigen.

    Die Digitalisierung führt also zu einer zunehmenden Umgestaltung von Arbeitsplätzen und erfordert von den Beschäftigten eine kontinuierliche Anpassung ihrer Fähigkeiten und Qualifikationen, um mit den Veränderungen Schritt zu halten.


    Unsere Antwort – der „Faktor Mensch“ im Mittelpunkt

    Was brauchen Unternehmen in der genossenschaftlichen Welt, um auf diese Veränderungen mit der notwendigen Wucht reagieren zu können? Es gibt vier strategische Hebel, die vor allem integriert Lösungen zur Rekalibrierung von Belegschaften bieten können:

    1. Bindung
    2. Bildung und Entwicklung
    (Up-Skilling und Re-Skilling)
    3. Arbeitgebermarke und Personalmarketing
    4. Rekrutierung

    Für alle vier Strategien wird eine verstärkte Investition in Bildung erforderlich sein, um den „War of Talents“ nicht zu verlieren. Alle vier hängen eng miteinander zusammen. Fortschrittliche Technologien, erweiterte Geschäftsfelder und flexible Arbeitsmethoden erfordern neue Kompetenzen und Kenntnisse seitens der Führungskräfte und Mitarbeiter. Nur Unternehmen, die ihre Belegschaft auf dem Weg zur digitalen Transformation mitnehmen und Wissenslücken schließen können, werden den zukünftigen Herausforderungen erfolgreich begegnen können. Entscheidend dabei ist das Tempo, ganz nach dem Zitat des ehemaligen GE CEO Jack Welch:

     „Wenn die Geschwindigkeit des Wandels außerhalb des Unternehmens die interne Veränderungsgeschwindigkeit überschreitet, ist das Ende nah.“

    Im Zuge dieser Entwicklungen ist es wichtig, sowohl eine Up-Skilling-Strategie (Erwerb zusätzlicher Kompetenzen) zu verfolgen, um die Mitarbeiterbindung sowie das Wachstum und die Entwicklung des Unternehmens sicherzustellen, als auch Strategien für Re-Skilling (Erwerb neuer Kompetenzen für eine neue Tätigkeit) und Down-Skilling (Beschäftigte, die durch technologische Entwicklungen in niedrigere Tätigkeiten verdrängt werden) zu entwickeln.

    Fazit:

    Die Transformation der Arbeitswelt ist komplex und facettenreich. In den nächsten zehn Jahren werden im Personalbereich Herausforderungen auftreten, wie sie in den letzten 30 Jahren nicht erlebt wurden. Demografie ist hierbei keine Prognose, sondern ein Fakt. Bildung, Qualifikation und Kompetenz werden ein wichtiger Teil der Lösung sein – und sein müssen.