Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 BUrlG bei einer 5-Tage-Woche Anspruch auf einen gesetzlichen Mindesturlaub in Höhe von 20 Werktagen. Hinzu kommen häufig noch weitere 10 Werktage Zusatzurlaub, die auf Grundlage des Arbeitsvertrages oder durch Tarifvertrag zusätzlich gewährt werden. Daher stehen Arbeitnehmern in der Regel 30 Werktage als Jahresurlaub zur Verfügung.
(Ggf. können Schwerbehinderte, oder ihnen Gleichgestellte, nach § 208 SGB IX einen Anspruch auf weitere 5 Tage Zusatzurlaub haben.)
Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG muss dieser Jahresurlaub grundsätzlich im laufenden Kalenderjahr genommen werden. Eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG möglich, sodass der nicht genommene Jahresurlaub mit Jahresende verfällt.
Gesetzlich gilt danach:
„Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muß der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden.“
Eine Übertragung von Urlaub nach dieser nationalen Gesetzeslage würde bedeuten, dass der Arbeitnehmer seinen ausnahmsweise auf das nächste Kalenderjahr übertragenen Urlaub spätestens bis zum 31. März des nächsten Kalenderjahres nehmen müsste.
Ein solcher Zwang besteht aber nicht immer. Infolge europarechtlicher Rechtsprechung können langfristig erkrankte Arbeitnehmer ihren aus den vergangenen Jahren stammenden, während der Krankheitszeiten nicht genommenen gesetzlichen Mindesturlaub im Falle Genesung auch noch über den 31. März des nächsten Kalenderjahres hinaus als Resturlaub geltend machen. Dies ergebe sich aus Art. 7 der EU-Richtlinie über Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, wonach länger erkrankte Arbeitnehmer vor einem Verfall ihrer Urlaubsansprüche zu schützen seien.
Um den Arbeitgeber jedoch bei längerer Krankheit vor einem unbegrenzten Anwachsen nicht erfüllter Urlaubsansprüche zu schützen, hat die Rechtsprechung des EuGH und des BAG eine Höchstgrenze formuliert, innerhalb derer Urlaubsansprüche bei langfristiger Erkrankung übertragen werden können: Der gesetzliche Urlaubsanspruch verfällt danach auch bei langer Krankheit generell 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, in dem der Urlaub erstmals entstanden ist.
An diesem Grundsatz hat sich in den letzten Jahren und Monaten durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 06.11.2018, C-619/16 und C-684/16 sowie jüngst Urteil vom 22.09.2022, C-120/21) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urt. v. 19.02.2019, Az: 9 AZR 541/15) etwas getan:
1. Verfall
Der gesetzlich nach § 7 Abs. 3 BUrlG vorgesehene Verfall von Urlaubsansprüchen wurde weiter eingeschränkt. Um den Verfall des Jahresurlaubs eines Arbeitnehmers herbeizuführen, treffen den Arbeitgeber maßgeblich Mitwirkungsobliegenheiten. Zu diesem Ergebnis kommen die Gerichte, indem sie die deutschen Urlaubsvorschriften richtlinienkonform (im Sinne der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG) auslegen. Demnach kann der Verfall nur eintreten, wenn
(1.) der Arbeitnehmer vorher konkret dazu aufgefordert wurde, seinen verbleibenden Urlaub zu nehmen und
(2.) der Arbeitnehmer eindeutig und rechtszeitig darauf hingewiesen wurde, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres bzw. nach Ablauf des Übertragungszeitraums nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG zum 31.03. des Folgejahres (soweit dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe vorliegen) erlischt.
Für etwaigen Zusatzurlaub, der arbeits- oder tarifvertraglich gewährt wird, können abweichende Regelungen wie der Verfall zum Ende des Jahres weiterhin vereinbart werden.
(Hinweis: Ausnahmen zum Urlaubsverfall betreffen beispielsweise Arbeitnehmende im Mutterschutz oder in Elternzeit: Der vor Mutterschutz und Elternzeit bestehende Urlaub verfällt nicht und kann nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz nachgeholt werden.)
Der Arbeitgeber ist grundsätzlich frei in der Auswahl der Mittel, derer er sich zur Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheit bedient.
Die Mittel müssen jedoch geeignet sein, den Arbeitnehmer so zu informieren, dass er frei darüber entscheiden kann, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt oder nicht. Ihm muss zudem unzweifelhaft klar sein, dass der Urlaub ansonsten verfallen kann.
Nach dem BAG soll es reichen, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in Textform mitteilt, wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen und ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann.
Es ist insofern als betriebliche Routine sicherzustellen, dass jährlich diese Mitteilungen und Aufforderungen in Textform versendet werden.
Nach jüngster Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 22.09.2022, C-120/21) schließt eine Verletzung der Mitwirkungs- und Hinweispflichten einen Verfall von Urlaubsansprüchen selbst nach Ablauf von 15 Monaten nach dem Urlaubsjahr aus, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub aufgrund einer unterjährig eingetretenen langfristigen Erkrankung in natura gar nicht nehmen konnte.
Den Schutz vor zeitlich unbegrenzter Übertragung von Urlaubsansprüchen bei längerer Erkrankung des Arbeitnehmers verdienen Arbeitgeber nach Auffassung des EuGH nicht, die das Anwachsen von Urlaubsansprüchen selbst herbeiführen, indem sie ihre vorgenannten Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllen.
An dieser Stelle ist somit besonders hervorzuheben, dass der Arbeitgeber auch dann nicht von seinen Mitwirkungsobliegenheiten befreit wird, wenn der Arbeitnehmer durch seine Erkrankung gar nicht in der Lage ist, Urlaub zu nehmen. Denn Urlaub kann nur genommen werden, wenn stattdessen die Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung bestehen würde. Ist der Arbeitnehmer jedoch krank, so ist er ohnehin von dieser arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflicht befreit. Im Umkehrschluss kann in diesem Fall also auch kein Urlaub genommen werden. Viel mehr besteht in der Regel die Möglichkeit für den Arbeitnehmer, der bereits Urlaub genehmigt bekommen hat und dann im Urlaubszeitraum wegen einer Erkrankung arbeitsunfähig wird, den bereits gewährten Urlaub unter Nachweis mithilfe einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes wieder „zurückzuerhalten“.
Allerdings dürfte die Rechtsprechung so zu verstehen sein, dass zwischen denjenigen Urlaubsansprüchen, die vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, und solchen, die während der Arbeitsunfähigkeit erworben werden, unterschieden werden muss.
Urlaubsansprüche, die vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, verfallen spätestens nach 15 Monaten nach Ablauf des entsprechenden Urlaubsjahres nur dann, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungs- und Hinweispflichten nachgekommen war.
Urlaubsansprüche, die während einer langfristigen Erkrankung erworben werden, dürften nach wie vor nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen, ohne dass es auf eine Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers ankommt (ArbRAktuell 2022, 537, beck-online). Denn insoweit dürfte es auf eine Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers nicht ankommen. Der Arbeitgeber kann einen langfristig erkrankten Mitarbeiter schlichtweg nicht in die Lage versetzen, seinen Urlaub zu nehmen. Wie die nationale Rechtsprechung das EuGH Urteil insoweit aber umsetzen wird, bleibt abzuwarten.
2. Verjährung bei hohem Arbeitsaufkommen
Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungs- und Hinweispflichten verletzt, kann er sich auch nicht auf die Verjährung der Urlaubsansprüche berufen.
Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung. Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.
Urlaubsansprüche berechtigten den Arbeitnehmer eine bezahlte Freistellung vom Arbeitgeber zu verlangen. Als Anspruch unterliegt er der Verjährung.
Dem Grunde nach würde für den Urlaubsanspruch also auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber seiner Mitwirkungsobliegenheit nicht hinterherkommt, dennoch die Regelverjährung nach deutschem Recht von 3 Jahren eintreten.
Auch hierbei liegt nach EuGH jedoch ein Verstoß gegen Unionsrecht vor, so der EuGH ebenfalls in seinem Urteil vom 22. September 2022 (C-518-20 und C-727/20). Wer seine Mitwirkungs- und Hinweispflichten nicht erfüllt, könne sich auch nicht auf Verjährung berufen.
In dem dortigen Fall hatte der klagende Arbeitnehmer den Urlaub nicht nehmen können, da die Arbeitsbelastung zu hoch gewesen sei. Als der Arbeitnehmer dann mehr als 3 Jahre später seinen damals nicht genommenen Urlaub gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen wollte, erhob dieser die Einrede der Verjährung.
Die mit der Verjährung bezweckte Gewährleistung der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens dürfe dem Arbeitgeber nicht als Vorwand dienen, unter Berufung auf sein eigenes Versäumnis im Rahmen der Klage des Arbeitnehmers einen Vorteil zu ziehen, indem er die Einrede der Verjährung erhebt. Ließe man zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt. Darüber hinaus liefe dies dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 GRCh verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwider.
(Anm.: Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber seine Pflicht gar nicht (rechtssicher) kennen konnte, da das Urlaubsjahr bereits vor drei Jahren geendet hatte, bevor der EuGH und das BAG im Jahre 2022 die Pflicht festgestellt hatten)
Schließlich habe der Arbeitgeber zwar ein berechtigtes Interesse daran, nicht mit Urlaubsanträgen konfrontiert zu werden, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden. Der Arbeitgeber sei aber nicht schutzwürdig, wenn er diese Situation selbst verursacht hat. Denn nach Auffassung des Gerichts hätte es hierzu gar nicht kommen müssen, wenn er den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hätte, den Anspruch tatsächlich wahrzunehmen.
II. Irrtum
Urlaubsansprüche „verfallen“ auch dann spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres, wenn der Arbeitnehmer langzeiterkrankt ist oder „verjähren“ zumindest nach Ablauf der Regelverjährung von 3 Jahren, selbst wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachkommt.
Sowohl dem Verfall nach 15 Monaten bei Langzeiterkrankten als auch der Verjährung nach 3 Jahren hat der EuGH nun eine Absage erteilt. Das Gericht sieht hierin einen Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 GRCh, wonach zwingende Grenzen für den automatischen Verfall von Jahresurlaub für europäische Mitgliedsstaaten einzuhalten sind.
III. Rechtstipp
Bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen, die neben den 20 Werktagen Mindesturlaub zusätzlich weitere 10 Tage Zusatzurlaub vorsehen, ist zu unterscheiden: Die Urlaubstage, zu deren Gewähr der Arbeitgeber nach dem BUrlG gesetzlich verpflichtet ist (Mindesturlaub und ggf. Zusatzurlaub bei Schwerbehinderung), unterliegen dem oben näher dargelegten Regelkanon der EuGH- bzw. BAG-Rechtsprechung.
Arbeitgeber sollten ihre Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzen, Urlaubsansprüche zu nehmen. Der Arbeitgeber sollte sicherstellen, dass an seine Arbeitnehmer ein jährlicher Hinweis auf den verbleibenden (Rest)Urlaub ergeht. Hierbei sollte explizit auf den drohenden Verfall hingewiesen werden, der bei Nichtnahme bis zum Jahresende eintritt.
Dieses Verfahren sollte im Lichte der neusten Rechtsprechung sicherheitshalber auch bei Langzeitkranken eingehalten werden, um sich vor angehäuften Urlaubsansprüchen (ggf. auch in Form von Abgeltungsansprüchen bei krankheitsbedingter Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach § 7 Abs. 4 BUrlG) zu schützen.
Sieht der Arbeitsvertrag (oder der Tarifvertrag) einen Zusatzurlaub in Höhe von 10 Werktagen vor, so gewährt der Arbeitgeber diesen freiwillig. Daher gilt hierfür der Regelkanon nicht. Der Arbeitgeber kann also bereits im Arbeitsvertrag festlegen, dass der Urlaub zum Jahresende verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt. Dies ist dem Arbeitgeber auch anzuraten. Es ist jedoch auch möglich, dass der Arbeitgeber zwischen Zusatz- und Mindesturlaub einen Gleichlauf schafft und den verfall des Zusatzurlaubs ebenfalls von einem rechtzeitigen und eindeutigen Hinweis hierauf abhängig macht.