Mit Urteil vom 14.05.2019 stellte der EuGH fest, dass Art. 31 Abs. 2 GRCh im Lichte der ArbZRL ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der gesamten täglichen Arbeitszeiten aller Beschäftigten verlangt. Damit stellte der EuGH zwingende qualitative Anforderungen an ein einzurichtendes Arbeitszeiterfassungssystem:
- Objektivität – vor Manipulation schützt ein System nur dann, wenn es „überprüfbar und verwertbare“ Daten erhebt, die frei von subjektiven Einflüssen sind
- Verlässlichkeit – Arbeitszeiten müssen sicher und zeitnah zu erfassen sein, unabhängig von Uhrzeit und Arbeitsort. Manipulationen gilt es zu verhindern bzw. strukturell zu erschweren.
- Zugänglichkeit – Das System muss den unverzüglichen Zugriff auf die Daten durch Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Betriebsrat und Aufsichtsbehörde ermöglicht. Dies dient der Sicherung der Arbeitnehmerrechte und der Kontrolle der Einhaltung arbeitszeitrechtlicher Mindeststandards.
Im Nachgang zu dieser Entscheidung wurde bekanntlich viel diskutiert, ob, wann und wie der deutsche Gesetzgeber auf diese Vorgaben reagieren würde, und welche Auswirkungen diese Entscheidung auf deutsche Arbeitgeber unmittelbar hat – und auf absehbare Zeit haben wird.
Zwischenzeitlich sind zu den etwaigen unmittelbaren Auswirkungen der EuGH-Entscheidung unterschiedliche gerichtliche Entscheidungen in Deutschland ergangen, zuletzt hat das Bundesarbeitsgericht am 04.05.2022 wichtige Fragen klargestellt.
2. Aktuelle Rechtslage in Deutschland
Zurzeit sieht die rechtliche Grundlage der Arbeitszeiterfassung nach § 16 Abs. 2 ArbZG so aus, dass Arbeitgeber die an Werktagen den Zeitraum von acht Stunden täglich überschreitende, oder auf Sonn- und Feiertage fallende Arbeitszeit erfassen müssen. Die Erfassungspflicht betrifft daher im Ergebnis Mehrarbeit. Diese Erfassungspflicht kann auf den Arbeitnehmer selber delegiert werden, und wird in der Praxis sehr unterschiedlich gehandhabt.
Will der Arbeitnehmer seine Mehrarbeit = Überstunden vergütet bekommen und klagt daher vor den Arbeitsgerichten auf Zahlung, so trifft ihn die Beweislast für Bestehen und Umfang.
Würde das Urteil des EuGH nun eine unmittelbare Pflicht der Arbeitgeber zur umfassenden Arbeitszeiterfassung begründen, so könnte diese auch die Beweislast dafür treffen, ob und wenn ja wie viele Überstunden die Arbeitnehmer erbracht haben – es käme so zu einer Beweislastumkehr zu Lasten der Arbeitgeber.
Das BAG entschied nun mit Urteil vom 04.05.2022 (Az.: 5 AZR 359/21), dass sich an der Beweislast der Arbeitnehmer für die durch sie erbrachten Überstunden durch das EuGH-Urteil aus 2019 nichts ändere. Denn dieses Urteil sei ergangen, um den durch die EU-Grundrechtecharta und die Arbeitszeitrichtlinie bezweckten Gesundheitsschutz der Beschäftigten tatsächlich einer Kontrolle durch Behörden und Gerichte zuzuführen. Es habe daher keine unmittelbaren Auswirkungen auf Fragen der Vergütung. Es bleibt daher auch dabei, dass die Arbeitnehmer geleistete Überstunden beweisen müssen und es zu keiner Beweislastverschiebung zu Lasten des Arbeitgebers kommt.
Eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht daher noch nicht. Jedoch fordert der EuGH die Mitgliedsstaaten ausdrücklich dazu auf, die Arbeitgeber durch eine Gesetzesänderung zu verpflichten, die für eine umfassende Arbeitszeiterfassung notwendigen Systeme einzurichten. Einer unionskonformen Auslegung ist § 16 Abs. 2 ArbZG durch seinen klaren Wortlaut nicht zugänglich. Es besteht daher Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber, die europäischen Vorgaben umzusetzen.
3. Angekündigte Gesetzesvorhaben
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat kürzlich hierzu einen ersten Gesetzesentwurf vorgelegt, der für elf Branchen im Bereich der Mindestlohnproblematik eine Pflicht zur digitalen Erfassung aller Arbeitszeiten anordnet.
Der Gesetzesentwurf „Zweites Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“ umfasst 13 Artikel und sieht u.a. vor, dass künftig nach dem MiLoG der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufgezeichnet und elektronisch aufbewahrt wird. Die neuen Anforderungen sollen dabei dem Bürokratieabbau durch Digitalisierung sowie der Verhinderung von Manipulationen bei der Arbeitszeitaufzeichnung dienen. Die geplante Regelung soll in § 17 MiLoG eingefügt werden und auch in das AEntG und AÜG aufgenommen werden.
Die Zeiterfassungspflicht obliegt nach dem Entwurf Arbeitgebern,
- die als Entleiher Leiharbeitnehmer beschäftigen,
- von nach Maßgabe des AEntG entsandten Arbeitnehmern,
- von geringfügig Beschäftigten und
- in den elf in § 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Branchen.
Es werden weitergehende Gesetzesentwürfe mit neuen Regeln für die Erfassung der Arbeitszeit für die „normalen“ Arbeitsverhältnisse folgen, im Koalitionsvertrag ist die Aussage enthalten, dass Vertrauensarbeitszeit weiter möglich sein soll, ohne dafür aber Voraussetzungen oder Abgrenzungen zu nennen.
Am Grundsatz des 8-Stunden-Arbeitstages soll sich nichts ändern. Allerdings soll es eine Öffnungsklausel für Tarifverträge geben, die Arbeitszeit flexibler zu verteilen.
Ebenfalls soll für Kollektivvereinbarungen eine Abweichung von der derzeitigen Höchstarbeitszeit (8 Stunden durchschnittlich, höchstens 10 Stunden je Tag) ermöglicht werden, zumindest experimentell.
Die zuletzt infolge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Dokumentationspflicht aller Arbeitszeiten angezweifelte Vertrauensarbeitszeit soll grundsätzlich weiter möglich bleiben. Hier werden Anpassungen in den Raum gestellt, jedoch nicht konkretisiert.
4. Praktische Umsetzung
Die qualitativen Anforderungen an die Umsetzung sind umfassend, lassen jedoch Handlungsspielraum zu. Durch Hinweis auf Art. 17 der ArbZRL dürfen die Staaten Ausnahmen von einigen Regelungen der Richtlinie treffen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Die eigenständige Erfassung durch den Arbeitnehmer selbst ist also jedenfalls in diesen Fällen zulässig, was insbesondere flexiblen Arbeitszeitmodellen (z.B. dem intensiv diskutierten und komplexen Konzept der Vertrauensarbeitszeit) zugutekommt. Es sind daher auch gemischte Erfassungsmethoden denkbar. Jedenfalls führen allein die Vorgaben des EuGH zur Zeiterfassung nicht zum Verbot flexibler Arbeitszeitmodelle. Richtigerweise werden die Ausführungen des EuGH so zu verstehen sein, dass die Anforderungen, die an die Objektivität und Verlässlichkeit eines Zeiterfassungssystems gestellt werden, in Korrelation zur ausgeübten Tätigkeit zu setzen sind. Denn bei der Umsetzung der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung geht es darum, die Art und Weise der Arbeitszeiterfassung an die Eigenart ihrer Beschäftigung anzupassen.
Die konkrete Ausgestaltung der Zeiterfassungssysteme ist ein Drahtseilakt zwischen einem einfach zu manipulierenden System und einem System der Totalüberwachung. Das Einschalten des Computers bedeutet nicht automatisch, dass gearbeitet wird. Das Ausschalten bedeutet aber genauso wenig, dass keine anderen arbeitsrechtlichen Verpflichtungen erfüllt werden. Das automatische Aufzeichnen von Ein- und Auslogdaten ist somit wenig effektiv. Aber reicht das händische Aufschreiben aus? Welches das effektivste Mittel der Aufzeichnung ist, wird stark vom Einzelfall abhängig sein.
5. Kann der Betriebsrat eine elektronische Zeiterfassung erzwingen?
Entscheidung des LAG Hamm vom 27.07.2021
Das LAG Hamm erkennt in seiner aktuellen Entscheidung zwar ein Initiativrecht des Betriebsrates zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ausdrücklich an. Nach Auffassung des Gerichts ergibt sich dies aus einem Vergleich der einzelnen Mitbestimmungstatbestände des § 87 Abs. 1 BetrVG. Während der Betriebsrat beispielsweise im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG nur bei der „Form, Ausgestaltung und Verwaltung“ von Sozialeinrichtungen mitzubestimmen habe, umfasse das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ausdrücklich auch die „Einführung“ technischer Einrichtungen. Aufgrund dieser Formulierung könne der Betriebsrat initiativ verlangen, dass der Arbeitgeber über die Einführung eines elektronisches Zeiterfassungssystem verhandele.
Anders als vielfach in der Presse dargestellt, ist die Anerkennung dieses Initiativrechtes aber noch nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Einführungspflicht des Arbeitgebers.
Denn das Initiativrecht bedeutet im Ergebnis nur, dass sich der AG den Verhandlungen stellen und bei Nichteinigung sich in eine Einigungsstelle „zwingen“ lassen muss. Wie diese dann entscheidet, ist (auch) Sache des konkreten Falles, dazu hat das LAG Hamm keine Prognose getroffen, obwohl im entschiedenen Fall der AG die technischen Einrichtungen bereits angeschafft, aber (noch) nicht genutzt hatte. Das LAG führt vielmehr aus, dass die Einigungsstelle auch die wirtschaftlichen Belastungen durch ein solches System bei ihrer Ermessenentscheidung zu werten habe.
Es bleibt abzuwarten, wie das BAG über die anhängige Rechtsbeschwerde entscheidet, und wie eine Einigungsstelle in einem konkreten Fall entscheiden bzw. wie eine gerichtliche Überprüfung eines Einigungsstellenspruches enden wird.